Praadurene - 1200 Jahre schriftliche Ersterwähnung von Brederis

Was Pompeji für die Erforschung der antiken Welt ist, gilt für Rankweil und die Erforschung des frühen Mittelalters.

Kaum eine europäische Siedlung kann sich mit Rankweil messen, wenn es um die Dichte an schriftlicher Überlieferung aus der Zeit zwischen 820 und 920 geht. Nicht weniger als 27 Urkunden wurden in diesem Jahrhundert in Vinomna oder Rangwila geschrieben.

Für die Zeit um 820 ist sogar eine Schreibschule belegt, wie sie sich sonst in ganz Europa nicht nachweisen lässt. Zu diesen Denkmälern frühmittelalterlicher Schriftlichkeit kommen archäologische Funde hinzu, die zeitlich nochmals früher, vermutlich im 7. Jahrhundert, anzusetzen sind. Für die Feier eines Jubiläums sind solche Datierungen kaum geeignet. Obwohl die Archäologie wertvolle Hinweise für die Existenz hölzerner oder steinerner Kirchenbauten samt Grablegen liefert, geben erst schriftliche Dokumente der Siedlung und den Menschen von damals einen Namen. Zudem enthalten sie ein Datum, das zwar nicht Anlass für einen runden Geburtstag, aber immerhin für ein Jubiläum bietet, das nicht stillschweigend einer Pandemie zum Opfer fallen soll.

Folcwins Gedächtnis
Das Stiftsarchiv St. Gallen, seit 2017 Weltdokumentenerbe der UNESCO, präsentiert aus gegebenem Anlass in seinem neuen Ausstellungssaal eine Jahresausstellung unter dem Titel „Folcwins Gedächtnis. Ein Privatarchiv aus dem frühmittelalterlichen Rätien“. Folcwins Gedächtnis besteht aus Urkunden auf Pergament, abgefasst in lateinischer Sprache, die alle rund um das Jahr 820 geschrieben wurden.

Gemeinsamer Nenner bildet ein gewisser Folcwin, der zwar nicht in Rankweil, aber im regionalen Umfeld sehr wohl noch vorgestellt werden muss. Wir wissen relativ viel über diesen Folcwin. Er kam von „Außen“ und übte das Amt eines Schultheissen oder Ministers aus, d.h. er war ein Helfer oder hoher Funktionär des Grafen, in dessen Auftrag er ein Ministerium, das Drusustal (vallis Drusiana), verwaltete. Den Ursprung seines Amtstitels – „der Schuld heischt“ - erhellt zudem eine Urkunde vom 20. Mai 817, mit der Onorius und Valeria an Folcwin einen Acker in Rankweil unterhalb St. Peter verkaufen, der ihnen einen Teil ihrer Schuld nachlässt. Mit dieser Urkunde betritt Folcwin gemeinsam mit Vinomna die Bühne der schriftlich fassbaren Geschichte. Bereits zehn Jahre früher, im Februar 807, lernen wir seinen Vorgesetzten Hunfrid kennen, der von Kaiser Karl dem Großen als Graf in Rätien eingesetzt wurde. Er lud damals zu einer Gerichtsversammlung ein, die sich „im Hof bei den Feldern“ – lateinisch in curte ad campos – abspielte. Gemeinsam mit ihren Frauen Hitta und Heimila dürften Hunfrid und Folcwin das Kloster St. Gallen besucht haben, wo sie nebeneinander in das „Buch der Freunde“, den Liber amicorum, eingetragen wurden. Als Wohltäter des Klosters vererbte Folcwin wohl auch sein Privatarchiv den Mönchen, die diese Urkunden jahrhundertelang aufbewahrten, obwohl sie so gar nicht in diese Sammlung passten. Immerhin 27 Dokumente sind erhalten geblieben, während sicher einige verloren gingen oder nur noch als Fragmente auf uns gekommen sind. Von den in ihnen enthaltenen Schenkungen und Verkäufen profitierte nicht wie gewohnt das Kloster, das tausendfach belegte Besitztransfers mit Grundbesitzern im gesamten Bodenseeraum pflegte, sondern eine Person: Folcwin. Dass dieser sich privat bereicherte, beweisen Transaktionen, mit denen Folcwin sich Acker um Acker rund um sein Haus in Schlins sicherte. Allein der Beweis einer solchen Besitzarrondierung ist für diese Zeit einzigartig, ebenso wie unsere Kenntnis seines Wohnsitzes am Rönsberg in Schlins. Immerhin war die Notiz zur Gerichtsversammlung von 807 Teil seines archivalischen Erbes, so dass sein etwas dubioses Handeln vielleicht auch anders bewertet werden kann.

Aimo von Brederis
Was vereint Aimo, Quintellus und Latinus? Alle drei waren Romanen mit Lebensmittelpunkt im Raum Rankweil um das Jahr 820. Alle drei schenken oder verkaufen am gleichen Tag, dem 7. Mai 820, einen Teil ihres Besitzes an den wohl aus dem nördlichen Frankenreich stammenden Folcwin. Nicht per Handschlag, sondern per Urkunde wurden diese Besitztransfers an diesem einen Tag in Rankweil abgewickelt. Um diese Rechtssicherheit in Form eines schriftlichen Dokumentes war vor allem Folcwin bemüht, der deshalb auch den Schreiber stellte. Es handelt sich um den Priester Andreas, der ganz offensichtlich über alle für diese Rechtspraxis nötigen Fertigkeiten verfügte und diese auch in seiner Schreibschule weitergab. Eine Urkunde in lateinischer Sprache in einem seit den Römern bekannten Formular schreiben zu können, hob ihn von der bäuerlichen Gesellschaft ab, die weder des Lesens geschweige denn des Schreibens mächtig war. Der mit einer „sozialen Magie“ behaftete Akt übte dementsprechend Eindruck auf die anwesenden acht Zeugen aus, die für die rechtliche Gültigkeit entscheidend waren. Honoradus, Lubus, Gaio, Starculfus, Stefanus, Andustrius, Madorninus, Vigilius lauten die romanischen Namen dieser Männer, die freien Standes sein mussten. Notiert wurden diese auf einem langen schmalen Pergamentstreifen, die bearbeitete Haut eines Schafs, die sich bestens für die Aufnahme der Schriftzüge aus brauner Tinte eignete. Dieser diente der Aufnahme von insgesamt vier Rechtsgeschäften, bevor er eingerollt und archiviert wurde. Sorgfältig zog der Schreiber einen Strich dazwischen, entlang dessen Jahrhunderte später ein Archivar mit dem Messer die vier Urkunden voneinander trennte. Nur mit viel Glück blieben alle vier Stücke erhalten und konnte das Geheimnis um ihre gemeinsame Herkunft geklärt werden.

An erster Stelle notierte Andreas die Schenkung des Aimo an Folcwin. Das Motiv bleibt im Dunkeln, doch trat Aimo noch öfters im Dunstkreis des Folcwin in Erscheinung. Insgesamt fünf Mal scheint er als Zeuge auf, meist in Rankweil, doch einmal auch in Schlins. Aimo übergab Folcwin einen Acker in Brederis, der auf der einen Seite an Starculf und auf der anderen an Lubaldus angrenzte. Diese Nennung der Anrainer zwecks Lagebestimmung war wie die Grössenangabe von vier Fudern Ertrag noch der römischen Tradition geschuldet, die auch vier Jahrhunderte nach dem Abzug der römischen Soldaten weiter gepflegt wurde. Auch die Lage jener Äcker, die Quintellus und Latinus an Folcwin schenkten bzw. verkauften, zeugt von dieser lebendigen Vergangenheit: Spinaciolu „kleines Dornengestrüpp“ und die Caiolas Bergunascas „Staude bzw. Hütte“. Von der Einwanderung germanischer Sippen zeugt die in der Urkunde des Latinus genannte Siedlung Reuti – vielleicht das schweizerische Rüti über dem Rhein -, die sich vom germanischen Wort für „roden“ ableitet.

Felder und Wiesen rund um eine römische Straßenstation
Das bereits erwähnte „Feld“, lateinisch campus, war ein in den römischen Provinzen recht häufig verwendeter Ortsnamentyp. Es verwundert kaum, dass wir nahe den römerzeitlichen Anlagen in der Flur Altenstadt-„Uf der Studa“ bzw. Brederis und einer wichtigen Straßenstation auf einen solchen Funktionsnamen stoßen, verweist er doch auf eine das ganze Becken zwischen Amberg/Ardetzenberg und Rankweil/Brederis betreffende Raumorganisation. Der Einrichtung der Straßenstation Clunia, die durch die Tabula Peutingeriana zumindest schriftlich dokumentiert ist, stehen die urkundlichen Nennungen wichtiger Verbindungsstraßen (viae publicae) durch diese Ebene gegenüber: um 820 und 850 im Raum Rankweil die via barbaresca, die „Straße zu den Barbaren“, die mit der einstigen Heerstraße von Chur nach Bregenz gedeutet werden kann, und die via Gisingasca, die Rankweil über Altenstadt mit Gisingen verband. Zu einer Straßenstation gehören jedoch nicht nur die Verkehrswege, sondern auch das Weideland für Reit- und Lasttiere. Mit dem charakteristischen Prata-Namen (lat. prata = Wiesen) von Brederis, das 820 als Praadurene erstmals genannt wird, ist auch die Einheit von Straßenstation und Umland gegeben. Beide Ortsnamen, Brederis und ad campos („bei den Feldern“) erinnern aber an eine ursprünglich militärische Organisation dieses von Ill und Rhein zusätzlich eingefassten Beckens.

Die prata (legionis) bezeichneten das militärische Nutzland, das neben Pferdeweiden vor allem Weide- und Wiesland für den großen Viehbestand der Truppen umfassen musste. Die Lage dieser prata im Mündungsbereich der Ill, d.h. in einem landwirtschaftlich kaum genutzten Bereich, entspricht übrigens der topographischen Situation von Pradl (< lat. prata, heute Stadtteil von Innsbruck) nahe der Mündung der Sill in den Inn. Auch die Nennung eines campus Rheni (Gamprin, Liechtenstein) gehören in diesen Zusammenhang. Campus wiederum bezeichnete das Übungsgelände der Truppen. Auch eine Straßenstation, wie sie zu einer solchen herausragenden „Verkehrsdrehscheibe“ gehörte, benötigte wiederum Weideland für die Versorgung der Pferde, Maultiere und Ochsen. Kaum verwunderlich, dass genau in diesem strategisch bedeutsamen Raum in der Zeit der Karolinger zwei Königshöfe eingerichtet wurden. Eine solche Konstellation verdient ebenso Beachtung wie ein beinahe verstrichenes Jubiläumsjahr, das Anlass für diesen kurzen Rückblick auf eine Vergangenheit von Brederis bietet, die keineswegs dunkel ist. Stattdessen entdecken wir das Dasein eines Menschen, der nun 35 Generationen später, durch eine historische Rückbesinnung vielleicht etwas Halt in diesem nur vorübergehend etwas verlangsamten Treiben finden kann.

Dieser Beitrag wurde verfasst von Dr. Peter Erhart, Stiftsarchivar St. Gallen

erstellt von Stefanie Kollmann-Obwegeser veröffentlicht 18.12.2020, zuletzt geändert 13.06.2023