Martin Ölz, 103 Jahre

Vor über zwei Jahren haben Gemeindearchivar Norbert Schnetzer und die Historikerinnen Vanessa Waibel und Margarete Zink begonnen, Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Rankweil durchzuführen. In den kommenden Ausgaben veröffentlichen wir auszugsweise die Inhalte der Gespräche. Den Beginn machte im März 2018, Martin Ölz, der damals mit 103 Jahren der älteste Rankweiler war und im Jänner 2019 verstarb.

Er war aufgrund seines hohen Alters einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, der als volljähriger Erwachsener die dreißiger und vierziger Jahre erlebte.

Kindheit in Rüggelen
Martin Ölz erinnert sich im Gespräch lebhaft an seine Zeit als Bub in den zwanziger Jahren. Das Dorfleben, große festliche Ereignisse, Geschichten über die Dorfbewohner, Hausnamen und Hochzeiten verbinden sich zu einer Sammlung von persönlichen Rankweiler Geschichten. Seine Kindheit ist geprägt vom Arbeitsalltag auf dem landwirtschaftlichen Hof der Kunstmühle Ölz in Rüggelen. „Der Tisch war immer voll – regelmäßig haben vierzehn Leute am Tisch gegessen“, erzählt er. „Mein Vater hatte die Landwirtschaft, wir sind damals der größte Landwirt gewesen, und die hat er verwaltet und ist nebenbei auf die Reise gegangen zu den Bäckereien, wir haben ja die Mühle gehabt. Er ist früh gestorben, ich bin vierzehn Jahre alt gewesen.“

Bei der Arbeit in der Landwirtschaft mussten auch die Kinder mithelfen. „Uns Buben hat man gebraucht zum Heuen und zum Heu aufladen, immer für die anstrengende Arbeit hat man uns geholt.“ Aber dieses Leben hatte auch viele Vorteile für Kinder: „Wir haben jeden Nachmittag im Stall verbracht, sind im Heu herum gesprungen.“ Damals war der Stall voll: „Wir haben etwa 40 Stück Vieh und fünf Rösser gehabt, vier Zugpferde und ein Schesaross [Schesa: Pferdekutsche], das hat der Vater gebraucht zum auf die Reise gehen, und wenn er halt in die Wirtschaft gegangen ist am Abend, dann hat er eingespannt.“

Dies weckt in Martin Ölz die Erinnerung an die ersten Autos auf den bisher nur von Fuhrwerken und Kutschen benutzten Straßen. „Anno 22, 24 ist das Auto aufgekommen, jedes Pferd hat einen Juck [Sprung] genommen, wenn ein Auto vorbei gefahren ist. Das hat ein ganzes Jahr gebraucht, bis sich die Rösser daran gewöhnt haben.“

Lehrjahre in Nürnberg
In den dreißiger Jahren verbrachte der junge Martin Ölz einige Zeit in Nürnberg, wo er die «Müllereifachschule» besuchte. Es war die Zeit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. Am Anfang hätten die „Kommunisten“ noch Unruhe gemacht in den Städten, erzählt er, und so kam er selbst auch einmal als „Neuling“ in Nürnberg in eine Demonstration. „Aus reiner Neugierde hab ich mich hinten dran gestellt, und auf einmal ist die Polizei vor mir gestanden, mit Knüppeln in den Händen, da habe ich schnell fortspringen müssen. Aber ich habe es schlau gemacht, ich bin zu einem Haus hingegangen und habe so getan, als ob ich läuten würde. Da sind sie an mir vorbei.“

Daraufhin schildert Martin Ölz die unmittelbar nach der Machtergreifung einsetzenden Judenverfolgungen in Nürnberg auf nachdrückliche Weise: „Aber am nächsten Tag gleich, also der Hitler ist an der Macht gewesen, hat man schon die jüdischen Geschäfte besetzt und zwar hat man denen ein schwarzes Plakat, vielleicht 40 Zentimeter Durchmesser, an das Fenster geklebt mit einem großen gelben Punkt. Da hat jeder gewusst, das ist ein jüdisches Geschäft und vor jedem Eingang ist ein SA-Mann gestanden und hat die Leute, die hinein wollten zum Einkaufen, aufmerksam gemacht: „Sie betreten ein jüdisches Geschäft“. Kann man sich vorstellen, ist kein Mensch mehr hinein in die Geschäfte.“

Martin Ölz kam dann mit diesem Wissensvorsprung als junger Mann zurück nach Rankweil: „Ich habe gewusst, was auf uns zukommt, aber sie haben mir nicht geglaubt.“ Angesprochen auf die Situation nach 1938 schildert er die Stimmung als ein Ende des „gemütlichen Zusammenlebens“: „Man hat halt müssen, man hat überhaupt nicht mehr politisiert. Man hat einfach die Oberen machen lassen, man hat sich auch nicht dreinmischen können.“

Im Krieg
Mit 26 Jahren musste Martin Ölz, so wie bereits sein Bruder Adam zuvor, in den Krieg ziehen. Seine erste Station war die Militärausbildung in Hall in Tirol, danach wurde er in Kufstein zum Rechnungsführer ausgebildet und in Russland eingesetzt. Drei Monate dauerte der Fußmarsch von Dorf zu Dorf.

Als Rechnungsführer war er für das Geld verantwortlich, das im Krieg reichlich vorhanden gewesen sei, wie er sagt: „Als ich nach Russland gekommen bin als Rechnungsführer, mussten wir eine Einheit von etwa 100 Mann und etwa 200 Rösser begleiten, da hat man zu uns gesagt, ihr seid drei Monate auf dem Weg, ich solle ausrechnen, was ich Geld brauche für Sold und Verpflegung. Das hat einen Haufen Geld gegeben, das hat man mir einfach in die Hände gedrückt, in einer Schuhschachtel hat man mir das Geld gegeben, ohne Bestätigung.“

Die Erzählungen vom Krieg zeugen meist von dem schmerzlichen Bewusstsein, nur knapp dem Tod entronnen zu sein. Präzise schildert Martin Ölz den Moment, als er angeschossen wurde, und die Stunden danach, in denen nur der Zufall über sein eigenes Überleben entscheidet, während neben ihm viele starben. „Nach der Verwundung war ich nicht mehr einsatzfähig, weil ich schlecht zu Fuß war. 1943 bin ich daher zu einer Einheit gekommen, welche in Berlin für den Katastropheneinsatz eingesetzt wurde. Ich bin fast ein Jahr lang in der Nähe von Berlin gewesen und habe privat ein Zimmer bekommen. Und das sind glücklicherweise Landwirte gewesen, dadurch habe ich gute Gesprächspartner gehabt.“ Der Kontakt zu diesen Personen, die ihn während dem Krieg beherbergten, sei dann noch lange nach dem Krieg aufrecht geblieben und sogar zu einem Besuch bereits in DDR-Zeiten sei es gekommen, erzählt Martin Ölz.

Man merkt all seinen Geschichten an, mit welcher Neugier und großem Interesse er die Lebenssituationen und Hintergründe der Menschen wahrnimmt. Als ein kritischer Beobachter äußert sich Martin Ölz auch zum dunkelsten Kapitel der nationalsozialistischen Vergangenheit: „Beim Nürnberger Vertrag hat es eine Liste gegeben, welche behauptet, sie hätten vom Konzentrationslager nie etwas gehört. Das gibt es nicht. Ich als gemeiner Soldat habe können sagen, wo Juden umgebracht werden. Und wo ich in Berlin gewesen bin, habe ich viele Transporte mit Juden und Häftlingen gesehen.“

In Russland wiederum habe er beobachtet, wie man Mädchen in Eisenbahnwaggons verfrachtet habe, um sie nach Deutschland zu bringen. Dort seien sie aufgeteilt und in der Landwirtschaft eingesetzt worden. „Wir hatten auch eine, die nicht mit den anderen am Tisch hätte essen dürfen. Aber das hast du nicht können durchführen, die hat ja die gleiche Arbeit gemacht wie die Einheimischen.“

Über die Nachkriegszeit
Nach 1945 erlebt Martin Ölz eine freudvolle Zeit. Auch wenn es Schwierigkeiten gegeben habe, hätten die Leute zusammengehalten. Als Heimkehrer sei man freundlich begrüßt worden. „Man hat eine Freude gehabt und ist untereinander einig gewesen und zufrieden, keiner hat gemeckert, obwohl da noch die Lebensmittelkarten gegolten haben. Die Lebensmittelversorgung hat gut funktioniert, das muss ich sagen, bei uns hat keiner müssen hungern.“

„Nach Kriegsende wurde für die Landwirtschaft die Abgabepflicht für Milch von 3.000 auf 4.000 Liter pro Kuh erhöht. Dies wurde von den Landwirten anstandslos angenommen. Zugleich schickte das Land Vorarlberg den Kindern in Wien täglich einen Tankwaggon mit rund 15.000 Liter Milch. Dies war nur möglich, weil es ab Dezember 1945 eine tägliche Zugverbindung von Bregenz nach Wien gab. Der Milchwaggon wurde an den Schnellzug angehängt – die Fahrt in die Bundeshauptstadt dauerte etwa 14 Stunden.“

Ein Zeichen der neu gewonnen Freiheit ist es, auch mal über die Grenze schauen zu können. Mit dem Rad besucht Martin Ölz mit einem Freund ein Volksfest in einer Schweizer Nachbargemeinde, erlebt diesen Besuch aber als Enttäuschung. „Diese Jugendlichen sind derart pöbelhaft gewesen untereinander, also gar nicht kameradschaftlich wie bei uns, ich kann mich gut erinnern, einen haben sie gepackt und grad in einen Brunnentrog rein geworfen.“

Gefragt nach Erinnerungen an die französische Besatzung in Rankweil, erzählt Martin Ölz von einer Tanzveranstaltung im Kreuz in Rankweil: „Da haben sie Mädchen dazu gebraucht und es sind wirklich viele Mädchen gekommen. Aber sie haben auch den Frühmesner Winter eingeladen, und er ist auch schon ziemlich früh hingegangen und hat halt sein Bier getrunken. Wo die Mädchen den Frühmesner gesehen haben, haben alle wieder umgedreht [lacht].“

erstellt von andrea.mairhofer@rankweil.at veröffentlicht 17.09.2019