Herta Keßler, 85 Jahre

Herta Keßler verbrachte beinahe ihr gesamtes Leben im Haus Nummer 18 an der Bahnhofstraße in Rankweil. Dort erlebte sie den Zweiten Weltkrieg, dort spielte sie in Kindertagen mit Herbert Keßler, dem späteren Landeshauptmann und Bürgermeister von Rankweil. Auch heute noch wohnt sie in diesem Gebäude – von ihrer ungebrochenen Lebensfreude zeugen täglich leise Klavierklänge, die aus den Fenstern auf die Straße dringen.

Die Vorfahren von Herta Keßler kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Schweiz in das wirtschaftlich aufstrebende Rankweil. Der Urgroßvater Jakob Bürgi (1829-1902) war verheiratet mit Elisabetha Bürgi, geb. Lüthy (1824-1891). Jakob Bürgi arbeitete zunächst als Buchhalter in der Rankweiler Papierfabrik Berlinger an der Köhlerstraße. Danach machte er sich als Kaufmann mit einem Papier- und Schreibwarenhandel selbstständig. 1895 erbaute er dann das Haus in der Bahnhofstraße 18, damals Haus Nr. 251, nach Plänen der Firma Riedmann & Scheidbach.

Im Erdgeschoß befand sich das Geschäft mit einem eigenen Portal und Vortreppe, darüber wohnte die Familie. Auch das Nachbarhaus, Bahnhofstraße 20, wurde nach Plänen der Baufirma Riedmann & Scheidbach erbaut, die dort im Hinterhaus das Lager und den Verkauf von Baumaterialien hatte. Herta Keßler erzählt, dass das gesamte Grundstück zuerst im Besitz ihres Urgroßvaters war, der dann aber die Hälfte an die Familie Scheidbach verkaufte.
Geboren wurde Herta Keßler am 10. Juli 1933 als zweites Kind von Emil und Clara Keßler, geb. Bürgi (1897-1971) – rund vier Jahre nach der Eheschließung der Eltern am 2. Februar 1929 in Innsbruck. Sie und ihre Geschwister Ilse und Elfriede kamen an verschiedenen Orten in Kärnten und Tirol zur Welt, da der Vater Emil Keßler (1886-1966) als Bahnhofsvorsteher oft umziehen musste. 1939 zogen sie in die Bahnhofstraße 18 zu ihrer Großmutter Catharina Bürgi geb. Halter (1867-1946). Bis 1939 wohnte im unteren Stock des Hauses noch der Arzt Dr. Hermann Keßler (nicht verwandt), dessen Sohn Herbert der spätere Bürgermeister und Landeshauptmann war.

Papier- und Zementhandel
Bemerkenswert ist, dass Jakob Bürgi neben Papier- und Schreibwaren auch mit Zement handelte. Im Hinterhaus der Bahnhofstraße 18 befand sich darum früher ein großes Zementlager. Über die Verwandtschaft der Urgroßmutter, die Familie Lüthy, gab es eine Verbindung nach Kufstein zur dortigen Zementfabrik „Egger & Lüthy“, erzählt Herta Keßler. „Und da hat mein Urgroßvater den ganzen Verkauf für Vorarlberg übernehmen können, auf Provision, und über die Eisenbahn wurden die Zementsäcke hergeführt nach Rankweil. Darum haben sie dann ein Lager gebaut. Das war das einzige Zementlager damals.“ Am Haus befinden sich noch immer drei Eisenringe, wo die Fuhrwerke ihre Rösser anbanden.

Beispielsweise stammte der Zement für die Frutzbrücke aus diesem Zementlager, wie die Mutter dann 1945 erzählte: „Jetzt gibt es diese Brücke auch nicht mehr, mit dem Zement von meinen Großeltern.“ Man hatte kurz vor Einmarsch der Franzosen die Frutzbrücke gesprengt, um sie daran zu hindern, über die Frutz zu kommen. Aber die Franzosen seien dann einfach mit dem Panzer hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf.

Kriegserinnerungen
Im Krieg wurde die Familie wegen der Herkunft der Großmutter und der Urgroßeltern oft daran erinnert, dass sie „Ausländer“ waren. Nicht vergessen kann Herta Keßler einen besonderen Fall im Zusammenhang mit dem damals berüchtigten Ortsgruppenleiter Franz Wagner. Im oberen Stock, wo die Großmutter wohnte, wurden während des Krieges Zimmer vermietet. Kurz vor Kriegsende wohnte dort noch ein „ostpreußischer“ Ausbildner im Reichsarbeitsdienstlager in Brederis mit seiner Frau. Dieser Mann hat in der Steckdose Staniolpapier entdeckt, für den Stromkontakt, aber der Mann dachte, dass die „Schweizerinnen“ gegen ihn einen Anschlag planten, und hat es angezeigt. Am Ostersonntag um 11 Uhr wurde die Mutter dann zum Ortsgruppenleiter Wagner bestellt, der die ganze Sache „nach Berlin melden“ wollte. Zur Mutter habe er gesagt: „Man sollte alle Ausländer in das Haus sperren und es in die Luft sprengen.“

Die Großmutter führte ein offenes Haus für die „Ausländer“: Unter anderem wohnte während des Krieges dort ein Ukrainer, ein Pole und auch der französische Kriegsgefangene Jean Mariani, der in der „Valduna“ arbeitete, bezog einige Wochen vor Kriegsende die Dachkammer. Jean Mariani heiratete nach dem Krieg jene „Rankweiler Bürgerstochter“, mit der man ihn, den „Ausländer“, davor schon zusammen gesehen hatte, eine für beide sehr gefährliche Liebe, die aber von den Rankweilerinnen und Rankweilern beschützt wurde.

Kriegsende
„Die Leute haben schon Angst gehabt“, erzählt Herta Keßler, „Und man hat gesagt, gehen wir in den Keller.“ Aber dann habe der Vater erfahren, dass die Meininger nach Oberriet hinüber können, vom Bürgermeister Kühne ging das aus. Die Mutter war schon seit ihrer Jugend mit Frau Kühne gut befreundet. „Darum hat man uns dann auch erlaubt, dass wir rüber gehen, weil wir ja Verwandte auch dort gehabt haben, von der Großmutter her, in Lüchingen bei Altstätten. Wir sind dann mit den Rädern hinüber gefahren.“ Die Erinnerungen der 11-jährigen Herta kreisen vor allem um eine große Puppe, die ihr Kind gewesen sei, und darum hätte die Puppe, Waltraud, unbedingt mit müssen. Und so hat sie die „fast einen halben Meter“ große Puppe der Marke „Schildkröt“ in den Rucksack packen dürfen. Drüben hat man die „Flüchtlinge“ dann in einem Schulhaus untergebracht zum Warten. Es hat Suppe gegeben, die Mutter hat noch eine Butter gehabt und die Verwandten aus Lüchingen haben Brot gebracht. Am Abend hat man dann wieder nach Hause fahren können, denn: „Es ist ruhig da, es ist kein Kampf.“ Beim Zurückfahren hat Herta ihre Puppe heraus gelassen, damit sie Luft bekommt. Noch sehr lebhaft ist ihr dann die Begegnung mit einem Uniformierten in Erinnerung, der mit dem Fahrrad unterwegs war. Der Soldat sei bei ihr stehen geblieben und habe mit ihr gelacht über die Puppe. Die Mutter sei aber erschrocken darüber. Das war Ende April 1945, am 8. Mai war Kriegsende.

Nachkriegszeit
Herta Keßler erinnert sich, dass gegenüber ihrem Haus, wo jetzt die Metzgerei ist, eine Wiese war: „Da haben sie ihre Panzer abgestellt und Lastwägen, und das Hörnlingen war auch besetzt, da haben die Franzosen gewohnt. Da ist ein netter Marokkaner gewesen, Mohammed, wir Kinder sind dann oft im Garten gewesen und haben eine Schokolade gekriegt.“

Nach dem Tod der Großmutter im Frühling 1946 wurde auch in der Bahnhofstraße 18 ein französisches Ehepaar untergebracht. Herta‘s Mutter hat gut Französisch gesprochen, weil sie in der französischen Schweiz ein Internat besucht hatte. Davor hatten wir einen „Schutzbrief“ vom Konsulat in Bregenz: „Schweizer Besitz, darf nicht beschlagnahmt werden.“ Das hat man an der Haustüre aufgehängt.

Jugend in der Nachkriegszeit
Nach dem Besuch der Handelsschule arbeitete Herta Keßler von 1949 bis 1955 als „Kontoristin“ bei der Rundel Marmeladenfabrik in der Landamanngasse 18. Der Besitzer – Georg Rundel – kam 1908 nach Rankweil und betrieb in den ersten Jahren das Hörnlingen in der Bahnhofstraße, gegenüber vom Haus der Familie Bürgi-Keßler.

Herta Keßler war für Rechnungen und Korrespondenz, aber auch für Personal zuständig. Für viele Frauen bedeutete die Arbeit in der Marmeladenfabrik ein Zusatzverdienst, immer wenn Obst oder Gemüse geliefert wurde. Aus Kirschen, Erdbeeren und Zwetschken wurde Kompott oder Marmelade hergestellt und in händischer Arbeit vorbereitet für die Konservierung in Dosen. Die Bohnen haben die Frauen zum „Spitzeln“ – also zum Abschneiden der Spitzen – mit nach Hause genommen. Alles wurde vor und nach dem Schneiden gewogen, auch der Abfall musste wieder mitgebracht werden.
Ab 1955 war Herta 17 Jahre lang in der „Valduna“ im Büro tätig, und die nächsten 13 Jahre bis zur Pensionierung im Jahr 1985 als Buchhalterin und Sekretärin in der Berufsschule Feldkirch. Nach ihrer Pensionierung bildete sie sich weiter und erlernte die Kunst der Hinterglasmalerei bis zur Perfektion. Herta Keßler ist bis heute eine selbständige Frau geblieben und übt ihr liebstes Hobby, das Klavierspielen, noch immer aus. Lange Zeit spielte sie früher die Orgel in der Kapelle der „Valduna“. Ihre Tochter Ulrike hat das Klavierspiel zum Beruf gemacht und auch die beiden Enkelsöhne sind musikalisch begabt.

 

erstellt von andrea.mairhofer@rankweil.at veröffentlicht 16.09.2019